Bilder von der Schönheit einer beiläufig sichtbaren Welt (Auszug)
Beate Müllers Fotografien zeigen uns urbane Ansichten, in Nah- und Fernaufnahmen, Naturausschnitte und im weitesten Sinne Stillleben. Auf den ersten Blick sind sie frei von Handlungen. Sie erzählen keine vordergründigen Geschichten. Diese Bilder kommen – von einigen schematischen Andeutungen abgesehen – ohne Menschen aus. Doch zeigen sie fast immer Orte, an denen Menschen sich aufhalten oder die vom Menschen geprägt wurden. Der Mensch existiert hier hauptsächlich in seiner Abwesenheit: als potentieller Nutzer von parkenden Autos, als Zugreisender, dessen Blick auf spiegelnde Abteilfenster oder durch sie hindurch nach der außen vorüberziehenden Welt wir folgen, als Fachmann des Verhüllens und Verbergens durch Vorhänge und Jalousien.
Aus der Perspektive der Kunstgeschichte erinnert mich diese Vorliebe für das Alltägliche und Unspektakuläre an einen einschneidenden Perspektivwechsel in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts: Waren bis zu Beginn dieses Jahrhunderts Naturdarstellungen mit Versatzstücken aus der Antike, mit sturmgepeitschten Baumwipfeln und Gewitterwolken oder ähnlich dramatisch aufbereiteten Effekten versehen oder Stadtansichten mit bedeutsamen architektonischen Details bereichert, so wurden diese Darstellungen plötzlich von undramatischen Schilderungen der heimischen Landschaft, kleinen Dörfern oder beschaulichen Innenansichten abgelöst, bei denen es sich um völlig alltägliche – um nicht zu sagen banale Sujets handelte.
Es ist der geschulte fotografische Blick der Künstlerin, der in einfachen, flüchtigen Nebensächlichkeiten ästhetisch neu motivierte Bilder entdeckt. So erinnert ihre Arbeitsweise an die einer Archäologin, die selbst im stickigen Abteil eines Regionalexpresses fremdartiges Terrain betritt, Spuren sichert und deren Wertigkeit festhält, ohne ihre „Fundstücke“ später in irgendeiner Weise zu manipulieren. (…)
In konzeptioneller Hinsicht stehen die Bilder in der Tradition der „Objet trouvé“, die Künstler wie Marcel Duchamp vor 100 Jahren begründeten, indem sie triviale Gegenstände aus ihrem natürlichen Kontext lösten und dazu aufforderten, sie ästhetisch wahrzunehmen. Doch die Provokation von damals war eine andere. Beate Müller lässt die Gegenstände wo sie sind, entdeckt aber in deren Verhüllung einen neuen ästhetischen Reiz.
Unter anderem in Mehrfachspiegelungen fordert sie mit ihrer Kunst den Blick des Betrachters heraus, irritiert seine Sehgewohnheiten und seine Erwartungen. Nichts ist, wie es scheint.
Beate Müller ist von der Kraft und der ambivalenten Natur jener Dinge und Situationen fasziniert, die sich dem schnellen ersten Blick entziehen, deren formale wie inhaltliche Qualitäten sich aber nach Momenten des Innehaltens und des Perspektivwechsels neu und anders offenbaren. (…)